Der Tod und die alten Damen

Viel erwartet man vom Anfang eines neuen Jahres. Neben den längst verworfenen „guten“ Vorsätzen, soll dem Neuen ja bekanntlich ein Zauber innewohnen. So wie der Jugend, der erblühenden Schönheit, dem weißen, unbeschriebenen Blatt. Dann kommt der Herr Tod vorbei. Und entzaubert, denn das ist sein Zauber, der ihm innewohnt.

Der Tod und das Mädchen, der Klassiker der Kunstgeschichte, spielt mit der Lust des Betrachters, sich voyeuristisch zu betätigen und mit wohligem Schauern an die eigene Endlichkeit zu erinnern, während man sich selbst in Sicherheit wähnt. Alles Leben hat ein Ende. Sicherer kann man sich mit etwas nicht sein. Irgendwann kommt das Ende. Für manche/viele, eines Tages, etwas „balder“ für einige andere, die es, ungewollt sicherlich, genauer eingrenzen können, müssen. Eine kleine Diagnose später und schon gehört einem das Leben ganz allein. Das Leben gehört den Lebenden, doch viel mehr gehört es den Totgeweihten. Da hilft alles großstädtisches Ausklammern nix, wer glaubt, gestorben wird nur auf dem Lande, in der Stadt wird gefeiert…
Auf dem Lande waren meine alten Herrschaften, die ich wunderbarerweise um mich haben durfte, als ich noch klein war. Sie fehlen mir, die alten Damen und Herren. Wo sind sie hin, die schönen gepflegten Damenhände mit den wunderbaren Runzeln und Flecken und Knochen und Sehnen, die elegant ein Cognac-Schwenker halten, während man eine Partie Canasta spielt? Die feinen Gespräche beim Kartenlegen, das nette Geplauder über Unfassbares aus Vorkriegszeiten und noch unfassbarer aus Kriegszeiten, das tuschelige Andeuten von Anzüglichem? Oh la la, waren sie vielleicht gar nicht so, sie wissen schon was ich meine… Die Herren, die sich immer räusperten, bevor sie sprachen, denn im Krieg hatte „Mann“ den ein oder anderen Lungenflügel eingebüßt. Das Rauchschwadenschwadronieren darüber, wie „Mann“ in „Gefangenschaft“ so zurechtkam. Sie rochen nach Rasur und gestärkten Hemden. Ich, das Kind, fasziniert. Frau Ellie Michael, die immer mit sanfter Stimme erzählte, dass sie als gelernte Schneiderin nach dem Krieg - wir hatten ja nüscht- aus alten Hakenkreuzfahnen Bikinis schneiderte. Frau Ellie Michael, Dir sollte eine eigene Berlin-Babylon-Bielefeld-Whatever Serie gewidmet werden. All diesen Damen mit der weißen Wasserwelle, den geschneiderten Kostümen und dem Humor der Überlebenden, die Berlin wieder uffjeräumt haben. Ich habe so viel gelernt von eben jenen „Tough Cookies“, das weiß ich jetzt.

Ich lernte von euch, dass das Leben ein ständiger Dialog mit dem Tod ist.

Lag ich in dem noch nachtwarmen, schweren Federbett meiner Oma oder Großtante, stand er im Raum mit uns. Der Herr Tod. Immer ein Herr. Wieso weiß ich nicht. DER Tod. In dieser perfekten Idylle zwischen Nacht und Tag, ein kleines Mädchen mit bloßen Füßen und eine ältere Dame, die vom Krieg erzählt. Vom Leben, wie es früher war, wo Menschen noch zuhause in ihren Betten starben oder draußen im Feld - und mir war klar, dass es einen Unterschied gab zwischen: „Auf dem oder im Feld“ oder im Armsessel. Ehrfürchtig erschauerte ich, wenn ich gewahr wurde, dass ich in demselben Sessel gestern noch meine Kindersendung im Fernsehen geschaut hatte. Frauen sprachen sehr viel und sehr selbstverständlich vom Tod. Er war ein Wesen mit dem sich leben, aber selten verhandeln ließ. Nur mein Urgroßvater konnte mit im feilschen, so schien es. Ich weiß nicht, was er ihm anbot, um von ihm zu bekommen, was er für sein Leben wollte. Aber der Tod hat alle seine Wünsche akzeptiert und schickte ihn nach einem sehr langen Leben ohne viel Federlesens ins Jenseits. Im Armsessel.

„Praktisch denken, Särje schenken!“ und alles lachte sich scheckig. Hatten die älteren Herrschaften ihre Eltern in den Tod begleitet, zuhause gepflegt, Kinder begraben, Männer verloren. Frauen gingen in den See, weil Soldaten in Russland geblieben waren, vermisst, im Eis, ewig jung, wenigstens. All das wurde mir erzählt. Ich sollte schätzen, was ich hatte. Meine Jugend, mein Leben. Das Huhn, das ich morgens noch gefüttert hatte, hing nachmittags im Topf. Anderes Federvieh hatte der Fuchs über Nacht geholt. Der Fuchs blieb am Leben, die Hühner saßen auf dem Baum. So war das eben. Man akzeptierte ihn, den Herrn Tod, heißt ja nicht, dass ihn irgendwer mochte. Wie man einen entfernten Verwandten vielleicht duldet, wissend, dass man ihn nie los wird, der aber im Normalfall auch im Hintergrund bleibt. Bis er sich dann eines Tages ungebeten an den Tisch setzt. Da sitzt er dann und mischt sich in jedes Gespräch ein und färbt jedes Essen ein und verdirbt allen die Laune. Oder das neue Jahr.
Das alte Sujet der Tod und das Mädchen, eine blutjunge Frau trifft den Knochenmann und beginnt mit ihm zu verhandeln, ein in der Kunst oft wiederholtes Bild. Die Kunst liebt, lebt, die Gegensätze, die Brüche… Auch eine junge Frau kann durchaus mit dem Tod verhandelt haben, er ging vorüber, und rührte sie nicht an. Oder doch? Ja, auch die erotische Komponente dieser Allegorie soll man nicht unterschätzen, denn nie fühlen wir uns mehr am Leben, als in Momenten der Leidenschaft oder in seiner unmittelbaren Gegenwart. Ha! Da lachen wir ihm ins Gesicht! Deswegen ziehen so viele nach Berlin… ach das sagte ich ja schon…

In meiner Vorstellung sitzt der Tod mit am Spieltisch und würfelt aus, wen und wen nicht? Die alten Damen sitzen bei ihm und bescheißen ab und an mit gezinkten Karten. Sie trinken Cognac. Meine Großmutter raucht. Daran ist sie nicht gestorben.
Life is what happens when you know it soon will be over.

Das Mädchen:
Vorüber! Ach vorüber!
Geh wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen.

Erschienen in:
How to Art – 1. Feb. 2019