Die Kunst zu packen…

Eine Reise, egal wie lang und wohin, beginnt immer mit dem ersten Schritt UND der Qual der Wahl, welches Gepäckstück hierfür wohl das passende ist. Die Hautevolee einst, umgeben von dringend notwendigem Personal, wenn es zu der Tabak-Farm in Afrika gehen sollte oder den Teeplantagen in Indien oder eine ganz simple Safari mit Robert Redford durch die Wüste, hatte es einfacher. Sie mussten sich nicht entscheiden, denn damals durfte das Gepäck auch aus dutzenden wohlsortierten Koffern bestehen, inklusive einer Minibar und einer Teestation, einem Reisebett und einer Chaiselongue. Monsieur Luis Vuitton machte es schon damals möglich, angemessen und unabhängig der Gegebenheiten vor Ort, seinen gewohnten und liebgewonnenen, traditionellen Ritualen in Pflege, Garderobe und Gin-Tonic-Aufnahme weiter zu frönen. Jene Unzahl an Helfern vorausgesetzt. So nahm man sich und alles was man brauchte mit und dort, wo es eigentlich ja ganz anders sein sollte, war es dann, wie zuhause. Nur vielleicht heißer und staubiger. Der spätere Neckermann Tourist wünschte es ähnlich, wenn es nach Mallorca oder Italien ging, allein er verlangte dann vor Ort ein bekanntes Speisenangebot. Schnitzel und Graubrot hielten Einzug am Mittelmeer, auf Wunsch der ersten großen Reiseveranstalter, die den Deutschen Südeuropa Reisenden keinerlei kulinarische Weltoffenheit zutrauten. Statt bekömmlicher regionaler Fisch- und Gemüsekost, gab es weiterhin und überall Schnitzel mit Jägersoße. Heutzutage ist das Äquivalent dazu die massentauglich gewordene Kreuzfahrt. Quasi in einem riesigen schwimmenden Koffer, umgeben von allen Dingen, die man meint zu brauchen, zu fremden Orten gefahren zu werden, Sehenswürdigkeiten an sich vorbeiziehen lassen, während man dabei Jägerschnitzel isst. Das alles, ohne auch nur annähernd seine eigene Komfort Zone zu verlassen oder die Länder, die man bereist, kennenzulernen.

Meine Schwiegermutter erzählte mir von einem Wunsch, den sie immer hatte. Sie wollte immer, entgegen aller Etikette, einen roten Lederkoffer kaufen und damit auf Reisen gehen. Sich selbst mit einer roten Reisetasche machte sie wohl in ihrer Vorstellung zu einer dieser mondänen Damen, die mit Sonnenbrille und Zigarette am Propellerflugzeug stehen, welches gleich nach Südfrankreich oder nach Tanger abhebt. Alles was sie brauchte schien in diesen einen Koffer zu passen.

Das echte Reisen beginnt für mich, mit einem weg von allem Bekannten. Das neumoderne „Kennenlernenwollen“ der anderen Kultur, inklusive Sprache und Nahrung, und das Eintauchen in fremde Orte und der Austausch, zur Not mit Hand und Fuß, ist einer der wichtigsten Erziehungsfaktoren überhaupt. Das kann mit einer kleinen Reise ins tiefe Bayern oder mit einer großen Reise ins ferne China geschehen. Dass man beginnt sich selbst und das als sicher geglaubte nachhaltig in Frage zu stellen, ist doch ein willkommener Abstecher. Es braucht wirklich nicht viel, und der spröde Hamburger wird im Ruhrpott feststellen, dass die Leute echt freundlicher sind, offener, unkomplizierter, dort unten im „Tiefen Westen“. Das ist Tradition hier im Pott, erklärt mir mein Mitreisender Schrägstrich Ehemann Hashtag kommt_von_da_unten. Und da ist es wieder dieses Wort, was mich den ganzen Sommer über auf meinen Reisen begleitet hat, und über welches ich immer wieder ins Nachdenken gerate: Tradition. Ohne Tradition gibt es keine Kultur. Das Weitergeben, das Tradieren, ist die Grundlage für Wissen und Handwerk. Gäbe es keine Tradition, müsste jede Generation irgendwie das Rad erfinden und lernen wie man Feuer macht. Oder wie man eine Handtasche herstellt, die von der einen zur nächsten Generation vererbt werden wird. Wie wichtig Tradition ist, zeigt sich erst, wenn man sie vermisst. Zwischen einer Horde Bayern, die sich lauthals zuprosten, mit riesigen Bierhumpen, unter einem Kreuz mit Schmerzensmann an der Weggabelung, fühle ich mich so durch und durch als Hanseatin und entschuldige mich gleichsam für meine traditionelle Ablehnung allzu deutlicher Religionszugehörigkeit im Allgemeinen. Mir vergeht halt der Bierdurst, wenn über mir ein Mann am Kreuz zu Tode hängt. Dafür zünde ich keine Zigaretten an einer Kerze an. Also ich rauche nicht mehr, aber ein Hamburger macht das nicht. Der Chinese schmatzt und schlürft beim Essen. Der Brandenburger isst Milchreis mit Setzei und Bratwurst. Der Duisburger Landschaftspark ist ein Industriegebiet mit altem Hochofen, denn im Pott ist Industrie Kultur. Der Pariser raucht unbeirrt weiter, steht, seit ich denken kann im Stau und das Essen ist göttlich. Jeder Jeck is anders jeck, sagt der Kölner.
Durch das Reisen (er)lernt man die traditionellen Unterschiede kennen zwischen den Völkern und vor allem das allen Menschen gleichermaßen Innewohnende. Den Unterschied zwischen sich erhaltenden und sich verändernden Traditionen. Traditionell verstanden die Pariser einen nicht, wenn man versuchsweise Französisch sprach, stimmt nicht mehr, heute versteht keiner mehr irgendwen. Aber sie sind mega freundlich dabei. Gespräche mit KOLs mäandern zwischen Englisch, Deutsch und Französisch bis man sich auf LOL einigt. Influenzer sprechen traditionell nur mit ihren Followern per Hashtag. Und mit anderen Influenzern per Kamera. Das ist alles aber total international. Traditionell herzen sich italienische Väter und Mütter mit ihren Kindern, auch den erwachsenen, küssen sich und nennen sich „Amore“. Der Brandenburger ist eher sprechnegierend und nennt seine Kinder: „Aber flott!“.
Gemeinsam halten sich Menschen aller Orts an der Kommunikation via Angesicht zu Angesicht fest, aller Smartphones zu Trotz, denn nur so wird man den anderen wirklich erreichen.

Ich stelle mir meine Schwiegermutter vor, wie sie mit ihrem roten Koffer durch Paris schlendert. Vielleicht setzt sie sich in ein Café auf dem Montmartre mit Blick auf Sacre Coeur und beginnt ein Gespräch mit einem französischen Filmemacher. Er lobt ihre schönen Beine. Das ist Tradition in Frankreich, der Mann wird immer die Schönheit der Frau loben. Was mag sie nur in diesen Koffer haben, wird er sich fragen. Vielleicht fahren sie an die Atlantik Küste.
Wir leben in einer Zeit, in der es Mut braucht. Hinterfragung. Kleines Gepäck. Rote Koffer. Tatendrang und Reiselust. Greta segelt über den Atlantik, denn nichts wird und kann mehr so weitergehen, alles wird sich verändern. Wer reist wird traditionell und weltoffen. Angstfrei vor Veränderung. Die Grenzen verschwimmen, lösen sich auf, werden zu sinnlosen, willkürlich gesetzten Trennlinien. Reisen ist das Allheilmittel gegen nationalen Stumpfsinn. Reisen führen einen am Ende immer auch zu sich selbst, viele mögen das nicht. Ich schon, ich packe grade wieder. Ich habe kleinen roten Koffer geerbt. Ich frage mich, was wohl drinnen ist…

Erschienen in:
How to Art – 20. Aug. 2020