Für uns Eltern hatten die letzten Jahre wirklich nicht viele Atempausen. Erstaunlich, wie anders man die Welt wahrnimmt, wenn man sie mit Kindern teilt. Bevor man selbst versteht, was um einen herum passiert, ist man mit den Ängsten der Kinder konfrontiert. Und so tröstet man nicht nur die verängstigten Kinderseelen, indem man versucht, ihnen zu erklären, was passiert, wenn die dunkle Seite der Macht Oberhand gewinnt, wenn eitle Kaiser niemanden mehr um sich herum dulden, die es noch wagen, die Wahrheit zu sprechen, wenn alle Hoffnungen an einen jungen Jedi-Ritter geknüpft sind. Dass Freiheit, wenn man sie hat, schwerer zu beschreiben ist, als wenn man dabei ist, sie zu verlieren. Man kann Eltern in zwei Kategorien unterscheiden. Die, die Grimms Märchen vorlesen, und diejenigen, die finden, dass diese zu gruselig und grausam seien. Der ewige Kampf zwischen den Geschichtenerzählern und denen, die bestimmen wollen, was Kinder lesen, hören und sehen wollen, sollen, können, dürfen. Die Geschichtenerzähler hingegen kann man wiederum in zwei Kategorien einteilen. Diejenigen, die versuchen, die Welt in die Bilder und Worte zu fassen, wie sie ist, und jene, die versuchen, davon abzulenken, und lieber heile Welt erdichten. Disney machte sich die Geschichten der Grimms zu eigen, verzerrte und konterkarierte die eigentliche Botschaft, erfand den Retter auf dem weißen Pferd, auf den die jungen Mädchen noch heute vergebens warten. Wir sind eine eingeschworene Gemeinde, wir, die wir daran glauben, dass Trost schenken nur funktioniert, wenn man sich auch traut, das Übel und Grausen der Welt zu beschreiben und somit die echten Sorgen der Kinder anzuerkennen. Beatrix Potter, JK Rowling, Roald Dahl, die Gebrüder Grimm, Mark Twain, Robert Stevenson, Jack London, Hans Christian Andersen, Erich Kästner, Astrid Lindgren, Michael Ende … Sie alle wussten, dass auch im Leben von Kindern schlimme Dinge passieren. Und sie erzählten davon, jede/r auf seine Art. Und sie erzählten von Auswegen aus der Misere und von kindlichem Mut und Tapferkeit, von Abenteuern, die man nur erlebt, wenn man zulässt, dass es wirkliches Unheil gibt, wenn man dem Bösen begegnet und die eigene Kraft erkennt und über sich hinauswächst. Und sie weigerten sich, ihre Geschichten gemäß dem Wunsch nach mehr Heiterkeit, Leichtigkeit oder Verkäuflichkeit zu mildern. Das Leben von Kindern ist nicht milde, seicht oder leicht. Traute Inseln des Beschütztseins vielleicht für einige Zeit für manche wenige, aber Kinder wissen um die Schrecken der Meere. „Allerleirauh“, die Mutter aller Märchen, beschreibt die Flucht einer Tochter vor ihrem übergriffigen Vater, der sie, nach dem Tod ihrer Mutter, heiraten will, den sie zwar eine Weile mit ihren exaltierten Wünschen hinhalten kann, der diese aber wider Erwarten erfüllen kann. Es bleibt nur eine Flucht in den dunklen Wald, der statt Schrecken Schutz bietet, weil sie sich in die Felle von 1000 Tieren hüllt, die Haut mit Asche schwärzt und in einem Baum versteckt. Sie wählt die Freiheit und die Selbstbestimmung und damit einen recht unbequemen Weg. Im Gepäck drei prächtige Kleider in einer Nuss verborgen, eine goldene Spindel und eine goldene Haspel und ein goldener Ring. Und dann ist es Allerleirauh selbst, die bestimmt, wie sie und von wem sie erkannt wird. Und weit und breit kein Prinz in Sicht …
Es ist verpflichtend notwendig, unsere Kinder auf die Welt, wie sie ist, vorzubereiten, und sie zu trösten, wenn die Welt ist, wie sie ist. Das Nachhaltigste, was ich in letzter Zeit daher gemacht habe, ist meinen Kindern Märchen vorzulesen. Ich tue damit Gutes, dessen bin ich mir sicher. Ich überspringe auch nicht den Schluss, wenn die „Bösen“ in glühenden Schuhen ihrem verdienten Ende entgegentanzen. Wenn von der garstigen Stiefmutter nur noch ein Häuflein Asche übrig ist, kann Kind endlich wieder ruhig schlafen, getröstet davon, dass es irgendwo, irgendwie eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Und in all der Dunkelheit und Wildnis der Welt immer Momente der Schönheit sind. Sonne, Mond und Sterne, drei Wahnsinnsoutfits für drei Bälle, erhellt die Haute Couture das Leben der Protagonistinnen und das Unsrige, denn bei aller Fürchterlichkeit und Todesdrohungen – Allerleihrau, Aschenputtel oder kluge Bauerntochter, sie alle schlüpfen in atemberaubende Designerstücke und wenden damit ihr Schicksal. Der tröstende Moment der Verwandlung, das Ausbrechen und Wahrwerden der verborgenen Wünsche, der Schuh, der wie angegossen passt. Starke Bilder ewiger Wahrheiten. Oh, Heinrich, der Wagen bricht, nein, es sind nur die eisernen Ringe um das Herz, denn wie groß ist die Erleichterung beim Volk, wenn sich die Mächtigen in Menschen zurückverwandeln, wenn aus dummen Fröschen geläuterte Prinzen werden. Zur Not muss Frau ihn halt mal gegen die Wand klatschen, das wusste man schon vor langer, langer Zeit.
Erschienen in:
ICON 2/2022