Im Land der stillen Morgenröte fallen im Garten die ersten Kirschblüten und tun so, als wären sie Schneeflocken. Der Morgen graut, und Mode, Kunst, Literatur und Musik sitzen am reich gedeckten Tisch. Sie sind die Kinder derselben Mutter, Geschwister, die sich im Idealfall gegenseitig beseelen, wenn sie sich nicht streiten. Noch ehe die Nachtigall verstummt, beginnt dann auch der Disput, wer denn nun der „Ernsthaftere“ sei. Kunst hat wieder angefangen. Wie immer stellt Mutter fröhlich fest, wie unsagbar ähnlich sich doch alle sind. Schaut in die hektisch erröteten Gesichter, sagt: „Jetzt nehmen wir uns alle bei den Händchen und singen: Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb!“, und hat für den kurzen Moment Ruhe geschaffen. Gemeinsam können sie den Sonnenaufgang betrachten, der den Garten zum Leben erweckt, in der Stille der Gewissheit, dass alles Geschaffene immer nur ein mangelnder Versuch der Annäherung ist an etwas schon lange Vorhandenes. „Schaut doch mal, die Wolken!“, sagt Mutter. Das sagt sie immer, wenn sie schlichten will, denn der Streit ist so sinnlos wie eine Sandlieferung in die Sahara. Really? Wollt ihr schon wieder mit dem Gekabbel loslegen? Kinder, könnt ihr nicht sehen, dass ihr gar nicht ohne einander existieren würdet? Brüderchen Kunst sagt entschlossen: „Nö! Ich will frei sein! Frei von ALLEM!“, verwandelt sich in einen Rehbock und springt ins Unterholz. Schwesterchen Musik summend und Schwesterchen Mode stickend bleiben daheim und sorgen sich. Was, wenn die Jäger ihn erwischen? Schwesterchen Literatur sucht noch das passende Wort. Mutter weiß, was Freiheit bedeutet, betrachtet weiter die aufgehende Sonne und freut sich über die knospenden Rosen, den Geruch von Gras und Erde, den Geräuschen von summenden Bienen. Das Versprechen der Erneuerung gibt und hält sie jedes Jahr, denn gute Eltern halten ihre Versprechen. Brüderchen Kunst kommt abends wieder heim, er ist verletzt und humpelt. Mutter und Schwestern verbinden ihn und spenden Trost. Dieser Freiheitsdrang, weil man ernsthaft sein will, ist mörderisch. Doch auch mitreißend. Mode schneidet den Rock ab und näht goldene Knöpfe an, Literatur findet klare Worte. Musik trommelt sich eins. Kunst hört und sieht zu, fühlt sich dadurch gestärkt und bestätigt, verwandelt sich in einen Tiger und springt in den Wald. Mode sieht den Wald in Frühlingsfarben und winkt dem Tiger hinterher, sie hört den Wolf heulen ... Sie hört die Jagdhörner und erschauert in ihrem Couture-Kleid. Mutter braucht Ruhe. Morgen kommen noch die Kinder der Kinder: Illustration, Comic, Pop, Film und Tanz. Ein Kranich fliegt am Himmel.
Erschienen in:
ICON 4/2022