Diesen Sommer verbrachte ich wieder viel Zeit in Berlin. Nach Wochen der Abstinenz und des Vermeidens fuhr ich nun täglich einmal quer durch die Stadt vom alten Berliner Westen bis in den alten Berliner Osten und nachmittags wieder zurück. Die Avus war zu, weil der Grunewald brannte. Doch glücklicherweise ist der Berliner Hochsommer leer und öd, also kaum innerstädtische Staus. Für Berliner Verhältnisse ist quasi niemand da. Ich suchte vergeblich nach dem poshen Berliner Szenelokal. Keine einzige Hafer-Latte- Mutti saß nirgends in einem der sonst so überschüssigen Cafés mit ausschließlich Englisch sprechenden Hipster- Baristas. Auf brandiger Wiese kam mir höchstens ein Mops entgegen, an der Leine seinen erschöpften Halter führend, der mit seiner Zigarette – der Halter, nicht der Mops – einen Parkbrand lächelnd in Kauf nahm, wenn der Mops nur endlich fertig wäre mit seiner Schnüffelei. Also saß ich mittags mitten in Lichtenberg an einer architektonisch konstruierten Wasserstelle, nett gedacht, mit Stufen zu einer geometrischen grün-braunen leblosen Lache, bedeckt mit Entengrütze und Zigarettenstummeln. Nicht mal ein verirrter neozoischer Frosch belebte das stadtplanerische Feuchtbiotop-Desaster. Aber hey, ich war in Berlin und dementsprechend am maßgeblichen und coolsten Ort Deutschlands. Netto oder Netto-Getränkemarkt waren die gastronomische Auswahl an diesem Ort in Lichtenberg, in der megahippen Stadt Berlin, und der kleine Indoor- Netto-Bäcker hatte zwar Kaffee, aber sonst nur Schnitzel- Schrippe und irgendwas mit dick Zuckerguss. Von wegen in Berlin wird alles vegan durchgegendert. Hier in Lichtenberg ist famos die Zeit eingefroren – vom unfassbar staubig heißen Pflaster mal abgesehen. Die Menschen, die man trifft, sind erschöpft freundlich. Alle freuen sich, wenn man als Dozentin pünktlich um halb zehn auf der Matte steht und seinen „shit together“ hat. Wenn irgendwas verlässlich läuft in dieser durchgegarten Stadtlandschaft. Neben Netto haben sich Menschen in einer Klein- Einfamilienhaussiedlung niedergelassen, dicht gedrängtes Idyll mit Eigenheim und Eigengarten in Miniatur. Gleich daneben ein neuer Bürokomplex mit Glassandsteinfassade, bezugsfertig und bereit für „ihre Ideen“. Breite Straße führt ins Ungewisse. Was ist denn noch mal hinter Lichtenberg? Aber Gegensätze machen die Spannung.
Berlin scheint stillzustehen. Die großporige Fassade der Plattenbausiedlung schweigt mich genauso an wie das postkapitalistische Einkaufszentrum, wo das Architektenteam sich echt an der asymmetrischen, halbrunden, halboffenen, halb gegarten Fassade abgearbeitet hat und aber auch – typisch Berlin – irgendwie haben’s gut sein lassen. Ein paar wenige Mütter wagen den unbegreiflichen Eingang zu nutzen, ziehen launische Kinder hinter sich her. Berlin Style, ich suche ihn hier vergeblich. Oder ist er gerade das? Denke ich an die Vorwende- Zeit zurück – für die Jugend meint das zeitlich ungefähr zweite Staffel „Stranger Things“ – dann bestand Berlin für mich aus Kreuzberg und Charlottenburg. Den Ostteil kannte ich auch ein bisschen, man machte dort Transit in den anderen Osten hinter Berlin, der ganz anders war. Und im Westen war der Punk, die Musik, die Mode, die Kunst, die alte Pracht. Krasser Protest gegen alles irgendwie, Establishment und so. Die Haare waren mindestens zweimal gefärbt, und die Attitüde war endlos cool. Blixa Bargeld weigerte sich trotzig, den Ostteil zu besuchen, David Bowie wurde zu „Heroes“ inspiriert, im „Dschungel“ tanzte man drei Nächte durch, Christiane F. schrieb Geschichte, die Damen trugen den alten Pelz nach außen und die Wohnungen hatten Berliner Zimmer. Ein Hauch von damals ist immer noch da. Jetzt sitz ich im ehemaligen Osten und gehe meiner Arbeit nach, und ich fühle mich wie immer so unendlich befreit, ein Gefühl, das es exklusiv nur hier gibt. Es stimmt alles, was man über Berlin sagt, alles und noch viel mehr. Jede Kritik ist wohl angebracht, und jedem fällt was Schlimmeres ein, und alle haben recht. Berlin ist echt brutal. Brutal arm, groß, laut, hässlich, reich, komisch, aggressiv … Es erregen sich nicht gleich die Gemüter, und den meisten ist meistens janz viel schnuppe.
Berlin ist eben eine Leinwand, eine geile, benutzte, zehnmal abgeschrubbte, wiederbenutzte, bekleckerte, gesäuberte und wieder draufgepinselte Leinwand. Man kann sich angstfrei nähern, denn sie verzeiht vermeidbare Fehler. Und nie wird man einen Schlussfirnis drüberziehen, denn fertig wird man nie sein. Meine Gedanken sind der Pinsel, die Gefühle die Farbe. Kreativität sucht immer einen neuen Ansatz, dafür sollte man die alten kennen. Der Mops findet seinen Platz zum Pinkeln, erleichtert lächelt der Mopshalter mich an, ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin.
Erschienen in:
ICON 6/2022