Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald von Suburbia, einem kleinen Dorf am Rande einer großen Stadt. Gretel hatte Angst, denn ihr Handy hatte nur noch 10 Prozent, doch Hänsel tröstete seine Schwester. Sie kamen an ein Häuschen, sie hatten großen Hunger und die Fashion von Dior war so gar nichts, um sie warmzuhalten.
Eine Frau öffnete die Tür. Sie trug ein Kleid aus fuchsiafarbenem Chiffon, mit gestickten Blitzen auf der Brust. An ihren Ärmeln waren rote Straußenfedern und ihre Finger waren über und über mit Ringen bestückt. Ihre wilden Haare leuchteten Rot und zwischen ihren Brüsten prangte eine riesige silberne Fliege. Sie bot den beiden an, sich aufzuwärmen, ihre Handys aufzuladen und auch etwas zu essen. „Ich erkenne Influencer zehn Meter gegen den Wind“, rief eine zweite Frau aus dem Innern des Hauses. Sie trug eine rote Sonnenbrille und moderne Sneaker. Sie beschwerte sich über mangelndes Licht. Eine dritte, zarte, dunkelhaarige Frau kam schwer beladen mit Silberschmuck und Abendkleidern hinter der anderen hervor und lächelte erfreut. „Ich liebe Kinder!“, rief die Frau mit der Sonnenbrille, und Hänsel und Gretel wussten, sie waren in ein Fotoshooting geraten. Es gab kein Entkommen. Zuvor waren schwere Pakete und Terminverschiebungen vorausgegangen, denn drei Frauen sind zumeist nicht in der Lage, so ohne Weiteres einen Termin im Raum-Zeit-Kontinuum zu finden, der sie alle zur gleichen Zeit, an denselben Ort, mit der gleichen Absicht zu versetzen vermag. Aber was im November und auch noch im Dezember hatte stattfinden sollen, fand dann eben Ende Januar statt. Gespräche unter dem Dampf des Steamers und des Zeitdrucks, denn heute noch soll die Glocke werden, gerollte Eigen- und Fremdhaare, falsche Wimpern verkleben die Sicht, das Fixativ, was es früher nur für Kreidezeichnungen gab, vernebelt die restlichen Sinne. Frauen, so stellte sich heraus, Frauen wuppen zurzeit so enorme dreifach und vierfach Belastungen, dass frau von der einstigen Doppelbelastung nur noch träumen kann. Die pandemisch unbetreute Kinderschar, wenn sie nicht muffelnd im Jugendzimmer hockt und Elektrosmog einatmet, wundert sich über den Aufwand, den Frauen so betreiben, um ein paar Fotos zu machen. Model mit fast 50, ja wer hätte das gedacht, keinen Tag zu früh, denn als Zwanzigjährige fühlte ich mich unwohl.
Frau schweift in bessere Tage ab, während der junge Israel auf Anweisung der Fotografin, Suzana Holtgrave, „MEHR, MEHR!“ auf dem Gesicht verteilt, weil „sie ist High Fashion, verstehst du, nicht Denver Clan!“ Ich fühle mich endlich erkannt und verstanden. Hänsel und Gretel bloggen derweil. Ich hoffe auf Erwähnung. Ich trage sonst nicht viel, nur meine Haare und den Schmuck um den Hals, um den es hier eigentlich geht. Wenn die Designerin, Nina Athanasiou, will, folgen wir ihrem Geheiß. In einen Traum aus pinkem Vintage-Tüll gehüllt, versinke ich eher Low Fashion ins Plumeau meiner Blumensofen. Meine Großmutter sagte immer: Sofen, weil sie fand, dass es vornehmer klang als Sofas. „Yes, YES, du bist eine DIVA, weißt du das? More, MORE! Bauch rein“, „WELCHER BAUCH!“ „Ja, SORRY, das Bäuchlein…“ Im Garten dann kann ich endlich zeigen, aus welchem Modelholz ich geschnitzt bin. Kate Bush fährt in mich, I feel her dancing, ahne aber, dass ich visuell eher an André Leon Talley heranreiche. Nina fühlt es jetzt mehr, Suzana fühlt die Inspiration des Ortes, ich fühle meine Füße nicht mehr. Hänsel und Gretel futtern sich durch das Catering, posten Food-Porn und suchen via Maps den Weg nach Hause. Ich glaube, sie teilen sich mit dem Make-up-Guy ein Uber. Ich bin die Hexe des Ostens der Republik, Meat Loaf stirbt, während ich im Garten liege und auf das Gras drapiert den Tod durch Blasenentzündung in Kauf nehme. I would do anything for the love of fashion and friends. Hänsel und Gretel haben den Schmuck geklaut. Der sollte doch morgen nach New York. Alexa findet einen Song, der mir gefällt: „And how she was before the years flew by, and how she was when she was beautiful…“ Bring it on, Kate.
Erschienen in:
ICON 1/2022