Nachatmen

Hatte heute wieder vergessen zu atmen.

Gen Mittag bemerkte ich das Bedürfnis nach Atemluft. Die Sommermonate über hatte ich tagsüber auch keine Zeit dazu. Nachts dann die üblichen Begleiterscheinungen von zu wenig Luft. Atemnot und Herzrasen, weil ich wieder in der Schule beim Abitur drohte zu versagen, den Lehrer grade noch überzeugen konnte, dass ich schon studiert habe und überhaupt jetzt gleich man mein Abiturzeugnis suchen werde, welches bestimmt irgendwo neben den nie eingereichten Belegen für die Steuer und der drohenden Altersarmut für Frauen mit Kindern in Kreativberufen liegt. Dann gesellte sich zur Atemnot und Herzrasen noch Schwindel dazu. Es geht alles so schnell. Eben war noch Jugend jewesen. Durch Corona und notwendige Atemschutzmasken, haben alle nochmal deutlich erfahren, wie wichtig dieser Sauerstoff ist. Dass der toxisch oder einfach leer sein kann und dann ist Ende Gelände. Dass das Blut davon ungesättigt sein kann, dass Bäume den irgendwie „machen“, das Meer aber auch, und man diese Dinge braucht, um zu leben oder wenn man zu Fuß in den zweiten Stock will, ist sehr lern- und spürbar.  Merke: Auch in einem gläsernen Penthouse, kann der Fahrstuhl mal kleben bleiben, und dann ist die Hermes-Tüte und der Soja-Latte (oder ist es DIE Soja-Latte? (Oder ist das zwar vegan, aber nicht jugendfrei???)) im dritten Stock schon verdammt schwer geworden. Reichtum kann einem von vielen Verantwortungen der Gesellschaft und Umwelt gegenüber befreien, Luft holen muss man leider immer. Auch im Porsche Pan-Demie-Ära auf der linken Spur bei abgeriegelten 250 Km/h bei 50 Grad Außentemperatur, kann man die Aircondition ein paar Grad runter drehen, während man die grünen Klimanörgler mit ihren Elektro-Wasserstoff-Fahrgemeinschafts-Spaßbremsen vor sich her treibt: Luftholen ist und bleibt dabei wenig verhandelbar. Da verbrennt man ihn doch lieber, den Sauerstoff, im Verbrennungsmotor und drückt genüsslich den Gashebel nochmal durch. Versuch mal Luft zu holen im Cabrio bei 220!

Wobei, die Gefahr ist ja groß, dass man beim Luftholen zum Nachdenken kommt und das kann schlimme Folgen haben, noch schlimmer, wenn man bei sich selbst und seinem post-POST-pubertären Handeln landet und sich ungewollt als soziales Wesen im gesellschaftlichen Kontext begreift… Huch das war jetzt aber viel zu tief geatmet…

Sommerferien mit Kindern lassen einen nicht durchatmen, der Alltag eignet sich auch nicht wirklich dafür. Während die Welt brennt, sich neue Birkin Bags anschauen war früher entspannter, Luxus wie er in den 1980ern des letzten Jahrtausends definiert wurde ist- gelinde gesagt- geschmacklos geworden. Freiheit ist längst nicht mehr der Geschmack der Zigarette danach und was ist schon persönlich in einer Welt voller Filter. Ja was denn nur?

Kinder sind persönlich, nicht nur meine eigenen, und deren Kinder sind auch persönlich. Meine persönliche Freiheit. Haben wir ihnen evtl. den Sauerstoff ihrer Zukunft weggespaßt, weil wir fanden, dass unsere persönliche Freiheit ein „Eure Armut kotzt mich an“-Aufkleber auf einem SUV beinhaltete und dass ich ein Recht auf Ignoranz der Umwelt, der Wissenschaft und meinem Karma gegenüber habe? Das wäre mir persönlich sehr unangenehm und führt wahrscheinlich wieder zu nächtlichem Herzrasen und Schlafapnoe. Und wenn ich dann zwischendurch mal unter Anleitung tief in den Schlüpfer atme und innehalte, dann merke ich erst, wie wenig ich geatmet habe in letzter Zeit. Im letzten Jahr. Ein bisschen albern kommt man sich ja schon vor, wenn man von Fachpersonal angeleitet werden muss zu atmen. Ich dachte ich hätte da ein gewisses Erfahrungsspektrum. Aber genauso wenig, wie ich anscheinend weiß, wie man steht, sitzt oder und sich aufrecht hält, was mir dann mehr als schmerzhaft klar wird, wenn jene Fachfrau mich in die gequetschten Rippen piekst und meinen Kopf aus den verkrampften Faszien der Schultern zieht, genauso wenig weiß ich offensichtlich, wie ich atmen sollte, um wenigstens das Grundbedürfnis meines Körpers zu bedienen. Durchatmen und nochmal und nochmal. Atem einsaugen und langsam ausströmen lassen. Wie einen köstlichen Duft. Ein und aus. Wie der erste Zug an der Gauloise Blondes, Liberte´ Toujour im Claim und im Herzen, tief hinein in die letzten Bronchialkanäle. Ich mach keinen Urlaub mehr mit Kindern. Wahnsinn!

Durchatmen. Ein und aus. Oder ich nenne es nicht mehr Urlaub. Noch besser! Ein und AUSSS. Der Laubbläser vor der Tür bläst sein letztes Stündlein. Ein und aus. Ich werde nochmal studieren. Ein und aus. Was Sinnvolles diesmal. Ein und aus. Die Kinder fanden eh die drei Tage in Hamburg mit Abhängen im Garten der alten Freunde und die drei Tage im Bio-Hotel in Mettmann am schönsten. EIN und AUS. Was macht man denn immer für ein Stress. EIN und AUS. Was das alles gekostet hat, der „Urlaub“ in Deutschland. Ein und Aus. Davon hätte man locker in die Karibik fliegen können. Ein und aus… ich wollte doch immer Tauchen lernen. Abtauchen. Abnoetauchen am besten. Ein und aus. Einmal nicht atmen müssen. Ein und aus. Der Rekord liegt bei 11:35 Minuten. Ein und aus. Diese Ruhe! Wer will da schon wieder auftauchen? Ein….

Erschienen in:
How to Art – 2021