NEW & IMPERFECT

Hello „new“ Year, du altes Haus! Kaum reingerutscht, fühlst du dich schon extrem vintage an. Vielleicht, weil du schon gleich mal zu Anfang wieder einige Memento Mori veranstaltest? Vielleicht gibt es einem einen enormen Dämpfer, wenn man grade unwillig die unbenutzte John Reed Karte im Luis Vuitton Bauchbeutel sucht und die Meldung reinrauscht, dass Vivienne Westwood gestoben ist? Vielleicht, weil sich die alten Schuldgefühle aus den letzten Jahren wieder in dieses neugeborene Jahr geschummelt haben, die frau ja mit der Muttermilch einsaugt. Vielleicht habe ich es auch etwas übertrieben mit der Anforderung an new and improved der Neujahrsvorsätzlichkeiten?  Schließlich, wohin noch improven? Die letzten drei Jahre war ich dreifache Mutter und Patchworkmutti, Hausfrau, Krankenschwester, Arzt, Hauslehrerin für Mathe, Deutsch, Geschichte, Latein, Englisch, Geografie, Nawi, Gewi, Ballett und Werken. Ich war Familientherapeutin, Altenpflegerin, Köchin, Flüchtlingsunterkunft, Socialworker, Psychiaterin, Chauffeurin, Trainerin, Buchhalterin, Freundin, Ehefrau und Lover, Model, Illustrator, Autor, Künstler und Kurator. Ich war geduldig, warmherzig, großzügig, energiegeladen, erschöpft, wütend, verzweifelt, sichtlich genervt, fleißig und hab Yoga gemacht.

Die Kinder haben den Übergang ins Gymnasium geschafft, die Ehe ist stabil und glückbringend, die Ukrainerinnen ziehen bald in ihre eigene Wohnung und ich habe ein Buch geschrieben und bereite eine Ausstellung vor. Und doch ertappte ich mich Weihnachten dabei Schuldgefühle zu entwickeln, weil ich es nicht geschafft hatte Plätzchen mit den Kindern zu backen und auch die Geschenke wieder nur bestellt hatte, statt mich durch die lokalen Läden zu schleppen. Ich ertappte mich dabei, mich im Spiegel zu betrachten und zu finden, dass ich mehr Sport machen müsse. Ich bedauerte, dass der Weihnachtsbaum nicht selbstgesägt war. Dass es wieder zu viele Geschenke waren und dass ich nicht genug Sport gemacht hatte. Dass ich das mit dem vegan sein nicht hinbekomme und dass ich nicht genug Sport mache. Und Vivienne Westwood starb und ungefähr da tat ich, was Mütter lieber nie tun sollten, ich pausierte und dachte nach. Rolemodels hat frau wenige gute- Vivienne war (m)eins. Was nun, Punk?

I sufferd enough! Ich habe genug gelitten! Sagt dazu die amerikanische Komikerin Ali Wong. Wann immer ein dusseliges Schuldgefühl aufkeimt, weil man keine Lust hat mit den Kindern Gesellschaftsspiele zu spielen oder mit ihnen Kuchen zu backen oder gar Nutella serviert, statt frisch eingekochte Marmelade. I SUFFERD ENOGH! WE suffered enough. Ali Wong meint damit, dass allein die Schwangerschaft und Geburt mehr als Grund genug seien, um sich Auszeiten von Anforderungen zu gönnen. Hallo? I mehr als suffered enough! Und so beginne ich das Jahr mit Vivienne on my mind und dem allgemeinen Ablass all unserer Schuld und vergebe. Und es fühlt sich an, als würde ich, mit hochtoupiertem blauem Iro und neonfarbenen Netzstrumpfhosen Pogo tanzen. Vergeben ist der neue Punk, weil gegen den Zeitgeist. Wie mit der Liebe, die man erst für sich selbst empfinden sollte, um sie anderen schenken zu können, vergebe ich zuerst mir selbst. Und dann allen anderen. Sitzen ist das neue Rauchen? Ich vergebe. Karte fürs Fitnessstudio noch nicht gezückt? Ich vergebe. Burger bestellt und Kinder länger Fernsehen lassen? Ich vergebe. Selbstoptimierung verunglückt? Ich vergebe. Ehe in den Sand gesetzt trotz gemeinsamer Kinder? Ich vergebe. You all suffered enough! And God save the Punk-Queen!

Erschienen in:
ICON 2/2023