Nuts in a shell

Mein all- time -favourite Weihnachtsmärchen ist und bleibt “der Nussknacker” von E.T.A. Hoffmann. Ein so genanntes “Kunstmärchen“. Genau wie „der Sandmann“, ein eher düsteres Geisterwerk, geheimnisvoll und voller Magie. Anders als die eher grausamen Grimmschen Werke, die in einer sagenumwobenen mittelalterlichen Zeit mit Prinzen und Prinzessinnen verortet sind, bleibt E.T.A. Hoffmann zeitlich im Jetzt, jedoch entführt er den Hörer oder Leser unmerklich in eine Parallelwelt. Realität und Fiktion verschmelzen in traumartigen Sequenzen. Zeit wird entmachtet. Personen verwandeln, enttarnen oder verzaubern sich. Nichts ist, wie es scheint und dann wieder doch nicht so, wie es nicht schien. Als Kind hörte ich gebannt dem Vorleser zu. Weihnachten und „Der Nussknacker“ sind seitdem verschmolzen. Das und Cat Stevens. Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass Cat Stevens gar keine Weihnachtslieder machte. Die langen Autofahrten in Richtung Heimat-Weihnacht in Potsdam brauchten Zeit. Zeit auf leeren Autobahnen, Zeit auf engen Rücksitzen in Familienautos. Unendliche Zeit an innerdeutschen Grenzen. Die Grenze vor Augen, der Vorleser, meist mein Vater, denn meine Mutter war Steuermann, mein Vater besaß gar keinen Führerschein. So schiffte sich der gute Mercedes in dunkelblau durch die schneebedeckte Winterlandschaft, innen brach der Morgen an, von katzensamtener Stimme versprochen, während die etwas rauere Stimme meines überarbeiteten Vaters vorlas ohne Unterlass, um die Kinder an innerdeutschen Grenzen, zwischen Wellblechdächern und Flutlicht und grauen Uniformierten in magischer Weihnachtslaune zu halten, ihnen sogar die Ängste zu nehmen, denn Grenzer waren nicht dazu da, Wohlfühlstimmung zu verbreiten. Der Mercedes flog in die Deutsche Demokratische Nacht, denn wie immer war die Familie nicht früher losgekommen. Es war die Reise in ein anders Land, so nah und doch eine Parallelwelt. Alles war anders, und doch war da die Heimat. Dort leuchteten die Kerzen und dort roch es nach Festtagsessen und dort klangen die Glöckchen süßer. Man hatte dort nichts, es gab ja nichts, sagten die Leute dort immer und ich wusste aber, dass es dort magisch zuging. Magisch, weil die Familie leiser wurde, die wenige Zeit mit dem immer arbeitenden Vater wurde auf magische Art und Weise mehr, das Kinderlachen lauter. Es war Kinderzeit. Zeit wurde entmachtet, außer es sollte zur Kirche gehen, dem laut bimmelnden, mahnenden göttlichen Zeigefinger folgte man schon seit jeher. Der Kirchturm ragte über unser Dorf und erinnerte die gottlosen Brandenburger wenigstens heuer zum Krippenspiel mal dem Heiland ein wenig Zeit zu schenken. Unser Auto fuhr zu diesem Ort und eine Lady Da-bam-bil schaute so kalt aus, bestimmt ging es um die Schneekönigin, ist ja ein Weihnachtslied für Kinder. Die Grenze zu diesem Ort war schrecklich, aber so müssen Grenzen sein, denn will man ins Schlaraffenland muss man sich ja auch durch den Hirseberg fressen, Prinzen müssen durch Dornenhecken, Königskinder müssen durch tiefe Wasser schwimmen. Manchmal bleib man darin hängen oder ertrank bei dem Versuch hinüberzugelangen. Erst wenn es ganz schlimm scheint, erst dann, wenn man glaubt nun komm ich nur noch einmal und dann nimmermehr, erst dann wirds schön. Erst dann wird’s gemütlich. Dackel und Tante, Oma und Opa, die Krippe aus uraltem Wachs, das noch viel ältere schwere Goldlametta, das jedes Jahr sorgfältig abgezupft wurde, um im nächsten Jahr wieder verwendet zu werden, das gute Geschirr auf schwerem Leinentischtuch. Großtantes silberner Serviettenring. Aus dem Weltempfänger Radioweihnachtsmusik mit Rauschen. Das Rauschen waren die Engelsflügel. Dorthin fuhren wir in der engen Kutsche unter schwere Decken gehüllt, hinein in die sternklare Nacht. Je näher wir kamen desto weißer wurde der Fichtenwald. Einsam war es. Aber man hatte ja seine Eltern und über sich einen riesigen weißen Hund, nein, ein Eisbär war es, so flog der Schlitten, gezogen von schnaubenden Rentieren, in das Reich der Zuckerfee. Ich wusste, dass mein Eisbär den siebenköpfigen Mausekönig einfach fressen würde. Droßelmeier saß auf der Uhr, tick tack, hielt der Uhr den Mund zu, damit der Zauber wirken kann. Uhren müssen Ticken. Doch sie stören die Magie. Kinder wissen das. Kinder können Zeit entmachten. Es ist bald wieder diese Zeit.

Kennt jemand noch diese graue Stunde, wenn die Eltern noch schlafen, es ist die Weihnachtsnacht. Der Baum riecht noch nach geschmolzenem Wachs und Tannennadeln. Die Geschenke liegen ausgepackt unter ihm. Man will spielen und kann nicht schlafen. In den Fenstern der Nachbarhäuser leuchten die Weihnachtssterne. Man hat einen vollen Sack Zeit. Es ist leise, still, nur das Ticken der Standuhr in der guten Stube. Und Gottes Zeigefinger schlägt 5. Geheimrat Droßelmeier schaut zufrieden. Er lugt unter seiner Augenklappe hervor und weiß, dass er die Zinnsoldaten losschicken kann, die Puppenarmee ist bewaffnet und bereit. Auf Nussknacker, da ist der Mausekönig!

Es ist Kinderzeit.Tick-Tack.

 

Erschienen in:
How to Art – 19. Dez. 2019